KEINE ZEIT ZU ÜBEN
Was die Lehrbücher nicht lehren
Die Woche ist voll, die Tage sind lang und die Zeit zum Üben lässt sich nicht finden. Viele kennen diese Wochen oder manchmal sogar Monate, in denen man einfach keine Zeit zum üben findet. Ich will dir ein bisschen darüber erzählen, wie man am Instrument weiter kommen kann, ohne es in die Hand zu nehmen! Du kannst Geschirr spülen, die Wohnung saugen, das Kinderzimmer aufräumen, Autofahren, Bus fahren oder spazieren laufen und während dessen Fortschritte erzielen. Neugierig?
ZEIT FINDEN
Die meisten Menschen wachsen in dem Irrglauben auf, dass die physische Welt, die wir Realität nennen, alles ist, was zählt. Zumindest, dass es der Ort ist, an dem wir uns primär weiter entwickeln. Ich möchte zuerst erwähnen, dass alles was ich hier schreibe, nichts Neues ist. Nichts, was nicht längst bewiesen ist. Und trotzdem wird es an den Schulen nicht gelehrt.
Viele Jahre nachdem ich mich dazu entschied, Gitarre lernen zu wollen, habe ich mir die Frage der Fragen gestellt: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen mir, als Gitarrenschüler vor 15 Jahren, und den Schülern, die ich heute unterrichte? Der Auslöser war, dass meine Schüler ständig sagten, sie finden keine Zeit zu üben. Im ersten Moment dachte ich, mir war es einfach wichtiger und ich nahm mir die Zeit. Doch je länger ich in meiner Vergangenheit wühlte, desto klarer wurde mir, dass das nicht immer so war. Das entwickelte sich dann erst mit der Zeit. Der Unterschied war viel unscheinbarer und hatte wenig mit Struktur, Konsequenz oder Disziplin zu tun. Ich erinnerte mich, dass ich einfach ständig Musik hörte. Und wenn ich keine Musik hörte, hab ich eben an sie gedacht. Ich habe mir vorgestellt, wie ich die Songs selbst spiele, mit auf der Bühne stehe, oder auf dem Sofa sitze und mit spiele. Es war nie meine Absicht, dadurch besser zu werden oder schneller zu lernen. Doch genau das ist passiert. In diesem Beitrag geht es darum, dass unser Körper auf unseren Geist (Bewusstsein und Unterbewusstsein) reagiert und wie wir dies nutzen können. Da ich meine eigene Geschichte besser kenne als jede andere, nehm ich sie als Beispiel in diesem Beitrag.
Zu Beginn, hatte ich ebenso wenig Zeit zu üben, wie die meisten Schüler heutzutage. Ich war nicht besonders gut in der Schule und musste ziemlich viel lernen um durchzukommen. Trotzdem, kam ich auf dem Instrument immer schneller voran als die meisten anderen. Erst als ich es bemerkte und alle von Talent und Begabung sprachen, widmete ich all meine freie Zeit der Gitarre und beschloss etwas aus dem zu machen, womit ich meine Zeit am liebsten verbrachte. Nun, was ich heute weiß ist, dass die Zeit, in der ich mir vorstellte Gitarre zu spielen, Zeit war, in der ich übte. Dabei fand ich es einfach nur spannend, der Musik zu folgen und versuchte mir vorzustellen, was ich greifen müsste, damit die Akkorde genau so klingen, wie bei den Gitarristen, die ich hörte. Ich behielt diese Vorstellung im Kopf, bis ich von der Schule nach Hause kam, um sie direkt auszuprobieren. Es hat wirklich oft funktioniert. Ich habe einfach ständig versehentlich geübt indem ich immerzu an's Gitarrenspielen dachte. Ich übte unterbewusst, ohne auch nur einen Finger zu rühren.
Also, warum funktioniert das?
Unser Geist sagt unserem Körper was er zu tun hat, zu jeder Zeit. Wenn wir eine neue Fähigkeit erlernen, können wir sie erst dann ausführen, wenn wir unserem Körper die richtigen Informationen zukommen lassen können. Der Absender dieser Informationen, ist unser bewusster und unbewusster Geist. Wenn er weiß, wie das, was wir tun wollen, später mal aussehen soll, kann er die korrekte Information senden und unseren Körper anweisen, es genau so zu tun. Ganz banal gesagt: Ist die Information fehlerhaft, reagiert unser Körper entsprechend mit einer fehlerhaften Ausführung, ist sie fehlerfrei, führt er sie korrekt aus.
Natürlich spielen auch die äußeren Umstände eine Rolle. Ich beherrsche das Instrument gut, wenn mir meine Frau allerdings versehentlich auf den kleinen Zeh tritt während ich spiele... ich denke ihr wisst, was passiert.
Das spannende ist jedenfalls, dass wir rein theoretisch keine praktische Übung benötigen, um eine neue Bewegung zu lernen.
Jede Bewegung, folgt einem Gedanken. Von welcher "Qualität" die Bewegung ist, hängt davon ab von welcher Qualität unser Gedanke, und die Information, die in dem Gedanken steckt, ist. Diese Information setzt sich aus mehreren Teilen zusammen: Fühlen, Tasten, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Körpergefühl.
Der Lernprozess setzt sich im Kern aus dem Senden einer Information und dem Empfangen einer Rückmeldung zusammen. Der normale Ablauf ist also, wir schicken eine vermeintlich korrekte Information an unseren Körper, er führt die Bewegung aus, worauf hin wir durch unsere Sinne wahrnehmen, ob die Information die gewünschte Aktion auslöst. Die Information dieser Beobachtung schicken wir an unser Gehirn zurück. Dort wird sie ausgewertet, korrigiert und schließlich erneut geschickt. Das machen wir solange, bis die Information von guter Qualität ist, dann beherrschen wir die Bewegung. Da wir in der Lage sind, uns Dinge mit all unseren Sinnen vorzustellen, können wir unserem Geist Rückmeldung geben, ohne diese Erfahrung durch unseren Körper tatsächlich gemacht zu haben.
Beispiel: Wir stellen uns vor, einen Akkord zu greifen, stellen uns vor wo die Finger sitzen, wie es sich anfühlt und wie es klingt. Während wir uns den Akkord, und wie wir ihn greifen, vorstellen, bemerken wir, dass ein Finger nicht dort sitzt, wo er sitzen sollte. In diesem Moment geben wir unserem Geist eine Rückmeldung. Es macht für unser Gehirn keinen Unterschied, ob wir den Akkord physisch drücken, und dann feststellen, dass die Information fehlerhaft war, oder den Akkord nur in Gedanken drücken und bemerken, dass die Information fehlerhaft war. Das Ergebnis ist das selbe: Ein Finger saß auf der falschen Saite. Das Gehirn korrigiert.
Es gibt eine Studie der Havard University, die aufzeigt, dass sich unsere Fähigkeiten, egal ob wir in Gedanken am Instrument üben oder am Instrument sitzen, gleichermaßen gut entwickeln können. Voraussetzung ist, dass wir, wenn wir in Gedanken üben, uns mit all unseren Sinnen darauf konzentrieren. Es gab zwei Gruppen von Menschen, die ein Stück auf dem Klavier üben sollten. Sie alle haben zuvor noch nie an einem Klavier gesessen. Beide Gruppen hatten den selben Übungsplan. Die eine Gruppe übte am Klavier, die andere Gruppe übte in Gedanken. Nachdem beide Gruppen die selben Übungseinheiten abgeschlossen hatten, wurde untersucht, wie sich ihr Gehirn entwickelt hatte. Es war identisch. Beide Gruppen haben sich gleichermaßen stark entwickelt, sie haben die selben neuen Synapsen gebildet. Es machte keinen Unterschied, ob sie in Gedanken, oder am Instrument geübt haben.
Eine weitere Studie wurde mit Sportlern durchgeführt, die Krafttraining machten. Um es kurz zu fassen, bei beiden Gruppen, wurde ein ähnlicher Kraftzuwachs festgestellt. Die einen trainierten in Gedanken, die anderen mit Gewichten. Ganz schön verrückt oder?
Der Grund weshalb das funktioniert ist, dass alles, was in Körper passiert, seinen Ursprung im Geist findet. Befindet ihr euch also in einer stressigen Phase, nutzt die Zeiten, in denen ihr Tätigkeiten ausübt, die euch wenig oder am besten keine Aufmerksamkeit kosten. Stellt euch vor, wie ihr euer Instrument spielt, wie es klingt was ihr spielt, wie es sich anfühlt, usw. Konzentriert euch mit möglichst all euren Sinnen auf euer Instrument und spielt in Gedanken. Ihr werdet Fortschritte erzielen. Vielleicht nicht solch große, wie ihr sie in eurer Vorstellung gemacht habt, doch sie werden da sein. Und das ist der springende Punkt. Ihr kommt voran, ohne tatsächlich zu spielen.
Josha Winkler, 07.03.2024